Leben mit Armut: Gemeinsames Forschungsprojekt von Diakonie und Fachhochschule Kiel

Die Diakonie Schleswig-Holstein und die Fachhochschule (FH) Kiel wollen die Lebensgeschichten von Menschen sichtbar machen, die mit wenig Geld ihren Alltag bestreiten müssen. Dazu haben sie jetzt ein gemeinsames Forschungsprojekt gestartet. Mit Hilfe von ausführlichen Interviews soll unter anderem erforscht werden, welche biographischen Umstände Armut fördern oder aus ihr herausführen. Ein besonderes Augenmerk legt die Studie darauf, wie Menschen ihren Alltag bewältigen und welche Strategien sie dafür entwickeln. Für das Forschungsprojekt suchen die Beteiligten noch Menschen, die über ihre Erfahrungen mit Armut berichten können.

„In unseren Einrichtungen beraten und begleiten wir viele Menschen, die von Armut betroffen sind“, sagt Diakonie-Vorstand und Landespastor Heiko Naß. „Sie haben ihre Wohnung verloren, sind überschuldet oder können kaum mehr am normalen gesellschaftlichen Leben teilhaben. Neben den strukturellen Problemen, wie prekäre Beschäftigungsverhältnisse oder zu niedrige Hartz-IV-Sätze, ist es für unsere Arbeit sehr wichtig zu wissen, welche persönlichen Hintergründe und Erfahrungen Armut verursachen können und wie betroffene Menschen ganz individuell damit umgehen. Mit diesem Wissen können wir unsere Angebote noch passgenauer ausrichten.“

„Armut ist ein Stigma, das Menschen vom Rest der Gesellschaft trennt“, betont Prof. Dr. Kai Marquardsen von der FH Kiel. „Diese Erfahrung machen viele Menschen in Armutslagen auch in Schleswig-Holstein tagtäglich. Trotzdem wird Armut ganz unterschiedlich erlebt und verarbeitet. Ziel des Projekts ist es sichtbar zu machen, dass stereotype Bilder der Betroffenen zu kurz greifen. Wir wollen ihre Lebensgeschichten betrachten, um Wege in die Armut und aus der Armut heraus besser zu verstehen. Dabei wollen wir auch die regionalen Besonderheiten in den Blick rücken. Ein besonderes Augenmerk werden wir aber auf die individuellen Strategien der Bewältigung von Armut legen.“

In den kommenden Monaten möchte Prof. Marquardsen mit seinem Team insgesamt 20 Menschen interviewen, die von Armut betroffen sind und aus unterschiedlichen Regionen kommen. Dabei sollen typische biografische Verläufe in die Armut bzw. aus der Armut herausgefiltert werden. Es geht um Gemeinsamkeiten und Unterschiede, wie die Interviewten Armut erfahren und deuten. Sie sollen danach befragt werden, wie sie ihre Situation bewältigen. Außerdem interessiert die Wissenschaftler, welche Rolle regionale Besonderheiten sowie die soziale Umgebung bei der Bewältigung von Armut spielen.

Vor diesem Hintergrund sucht das Forschungsteam der Fachhochschule Kiel nach Menschen in Schleswig-Holstein, die selbst Erfahrungen damit gemacht haben, mit wenig Geld über die Runden kommen zu müssen und sich vorstellen können, aus ihrem Leben zu erzählen. Selbstverständlich werden alle Gesprächsinhalte streng vertraulich behandelt und vollständig anonymisiert. Interessierte können sich auch unter einem anonymen Namen melden. Für Rückfragen zum Projekt und Terminvereinbarungen steht Jana Matz von der Fachhochschule zur Verfügung: jana.matz@fue-fh-kiel.de.

Am Ende des Projektes, im Sommer 2023, stellen die Forschenden die Ergebnisse ihrer Arbeit bei einem Symposium vor. Die Diakonie Schleswig-Holstein wird darüber hinaus die Erkenntnisse gemeinsam mit ihren Trägern und Einrichtungen auswerten und gegebenenfalls die Angebote für Menschen in Armut anpassen.

Im nördlichsten Bundesland lebten 2019 knapp 16 Prozent der Menschen mit einem Armutsrisiko. Nach Einschätzung der Diakonie hat sich diese Zahl seither kaum verändert, die Situation der Betroffenen aber während der Corona-Krise weiter verschärft. Von Armut bedroht oder betroffen sind vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende, Familien mit drei oder mehr Kindern sowie junge Menschen zwischen 18 und 25 Jahren. Die Folgen sind gravierend: Neben existenziellen Fragen, wie dem Erhalt der eigenen Wohnung, ist die Teilhabe dieser Menschen am gesellschaftlichen, kulturellen, sportlichen Leben sowie an Bildung und Arbeit stark eingeschränkt. Laut EU-Definition sind Haushalte dann von Armut bedroht, wenn ihnen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zu Verfügung stehen, für eine alleinstehende Person liegt diese Schwelle in Schleswig-Holstein bei einem Nettoeinkommen von 1.143 Euro.