Abend der Begegnung: 175 Jahre Diakonie – Freiheit und Nächstenliebe im modernen Sozialstaat

Landespastor und Diakonievorstand Heiko Naß hat sich für schlankere Verfahren und weniger Bürokratie in der sozialen Arbeit sowie eine gleichberechtigtere Zusammenarbeit zwischen Wohlfahrt und Sozialstaat ausgesprochen. Das sagte er beim traditionellen Abend der Begegnung in Büdelsdorf. Bei dem Jahresempfang des Diakonischen Werkes Schleswig-Holstein standen die Herausforderungen der Wohlfahrt im 21. Jahrhundert im Mittelpunkt der Betrachtungen. Anlass war das 175. Jubiläum der Diakonie, das in diesem Jahr begangen wird. Zum Abend der Begegnung waren mehr als 250 Gäste aus Politik, Kirche, Diakonie und Gesellschaft gekommen, darunter Schleswig-Holsteins Sozialministerin Aminata Touré sowie der Bischof im Sprengel Schleswig und Holstein Gothart Magaard.

Schleswig-Holsteins Sozialministerin Aminta Touré sagte in ihrem Grußwort: „Als größte Wohlfahrtsorganisation des Landes hat das Diakonische Werk ein starkes Netz aus Einrichtungen und Angeboten geflochten. Ein Netz, das trägt. Überall im Land setzen sich Menschen unter dem Dach der Diakonie für ihre Mitmenschen ein: Haupt- und ehrenamtlich. Ihnen gebührt unser aller Dank für ihre wertvolle Arbeit! Helfende Hände, schützende Wände und ein gemeinschaftliches Miteinander für all jene, die es alleine schwer haben: Das macht die Diakonie seit 175 Jahren aus. Sie sind eine verlässliche, starke Stimme für ein gutes, soziales Miteinander im Land. Mir ist wichtig, dass soziale Träger in einem guten politischen Rahmen arbeiten können. Als Sozialministerin setze ich mich dafür ein, dass wir mehr Beständigkeit und Planungssicherheit für die Menschen in Schleswig-Holstein erreichen – deshalb haben wir als Land beispielsweise die weitere Förderung von Sprach-Kitas auf den Weg gebracht.“

In seiner Rede erinnerte Landespastor und Diakonievorstand Heiko Naß an das Subsidaritätsprinzip, das noch bis in die 1990er Jahre das Zusammenspiel von Sozialstaat und Wohlfahrtsverbänden in Deutschland bestimmte. „Es war eine vertrauensbasierte Zusammenarbeit bzw.  Arbeitsteilung von staatlichen Aufgaben und gemeinwohlorientierten Organisationen der sozialen Arbeit“, so Naß. „Dieses duale System der Wohlfahrt gehört leider der Vergangenheit an. Heute stehen auf der einen Seite der Sozialstaat und die Kostenträger und auf der anderen Seite ein nur scheinbarer Markt gemeinnütziger und privater sozialer Einrichtungen. Dabei wird die soziale Arbeit den Prinzipien der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit unterworfen, flankiert von einer Fülle von Qualitätskontrollen und Effizienzkriterien. Dieses verursacht einen überbordenden Bürokratismus.“

Für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sei es von großer Bedeutung, dass alle Beteiligten, also Sozialstaat, soziale Träger und Einrichtungen und natürlich die Menschen, die im Zentrum der sozialen Arbeit stehen, wieder stärker auf Augenhöhe zusammenarbeiteten, so Naß. Angesichts des demografischen Wandels, des Fachkräftemangels und knapper finanzieller Ressourcen müsse neben den staatlichen Institutionen in ein Netzwerk gemeinwohlorientierter Organisationen investiert werden, die vor Ort professionelles und ehrenamtliches Engagement verbinden. Dabei verwies er auf das gemeinwohlorientierte und wertebasierte Netzwerk von 1.600 diakonischen Einrichtungen und Angeboten sowie 500 Kirchengemeinden in Schleswig-Holstein.

Heiko Naß erinnerte in diesem Zusammenhang an Johann Hinrich Wichern, dem Begründer des Rauhen Hauses in Hamburg. Dieser habe in Deutschland in unterschiedlichen Regionen Netzwerke aufgebaut, die jeweils in das Gemeinwesen hineineinwirkten und sich für einen Zusammenhalt unter den Bürgerinnen und Bürgern einsetzten. Wichern hatte 1848 beim Kirchentag in Wittenberg mit seiner berühmten Rede den Grundstein für die heutige organisierte Diakonie gelegt.

Vor diesem Hintergrund lasen beim Abend der Begegnung der zwei Schauspielende Passagen aus dem Briefwechsel zwischen Johann Hinrich Wichern und seiner Frau Amanda. Darin schildert Wichern eindrücklich die sozialen Zustände in den deutschen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Zeit war von großen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen gekennzeichnet, die in Teilen der Bevölkerung zu Armut und Verelendung führten. In seiner Wittenberger Rede hatte Wichern deshalb die evangelischen Kirchen aufgerufen, sich stärker und organisiert in der sozialen Arbeit zu engagieren. Nach dem Kirchentag in Wittenberg wurden überall in Deutschland regionale und lokale Zusammenschlüsse der Inneren Mission gegründet. Es entstand ein Netzwerk aus Vereinen und Verbänden, die evangelische Krankenhäuser, Pflegeheime und Stadtmissionen gründeten.